Geschichte der Elektrizitätswirtschaft
Richtbetrieb vom Kraftwerk Lübbenau nach Helmstedt 1990 – 1995
Autor: Dr. Egbert Brossmann Datum: 03.12.2024
Im Rahmen der neuen Beziehungen durch die nach der Boxbergstörung vom 14. Januar 1987 mit Milliardenschaden umgehend aufgenommenen österreichischen Stromlieferungen wurde am 7. März 1988 der Vertrag zum Bau einer
380-kV-Leitung Helmstedt – Westberlin abgeschlossen. Die erste Leitung Helmstedt – Wolmirstedt bei Magdeburg ging am 3. Oktober 1989 noch vor dem Fall der Mauer in Betrieb und wurde kurzzeitig für Stromlieferungen von West nach Ost genutzt /1/.
Am Donnerstag, dem 25. Oktober 1990, hatte das Stromverbundunternehmen Preussen Elektra AG aus Hannover angefragt, ob die damalige Übergangsgesellschaft VENAG i.G. längerfristig Strom liefern könne. Hierbei ist zu beachten, dass Preussen Elektra nach der Bergwerkshavarie in Borken am 1. Juni 1988 mit 51 Toten und der Schließung der Braunkohle-Tiefbau-Grube Stolzenbach sowie mit den durch Restlaufzeiten eingeschränkten Kraftwerken im Helmsteder Braunkohle-Revier Engpässe hatte. Die VENAG-Führung hatte erst einmal abgesagt, da größere Stromlieferungen aus der DDR in die BRD von dem westdeutschen Verband der Elektrizitätswirtschaft (VDEW) technisch ausgeschlossen wurden /2/.
Diese Anfrage wurde am nächsten Tag vormittags an die Fachebene geleitet. Das eindeutige Stabilitätsproblem erschien nicht aussichtslos. Sofort am Freitag wurde zuerst ein akzeptabler Schaltzustand vom Kraftwerk Lübbenau über Wolmirstedt bei Magdeburg nach Helmstedt entwickelt. Lübbenau erhielt mit seinen 54-Nut- Generatoren gegenüber den 48-Nut-Generatoren wegen des geringeren Widerstandes den Vorzug /3/. Danach ergaben die ausschlaggebenden ersten Stabilitätsrechnungen per Hand am Sonnabend optimistische Resultate für einen 220-kV-Richtbetrieb über die beiden 380-kV-Leitungen (Ragow-Wolmirstedt und Wolmirstedt - Helmstedt). Für die Einrichtung eines Rechenprogramms fehlte einfach die Zeit.
Die Einbeziehung einer 220/380-kV-Trafobank des Umspannwerks Ragow vor Lübbenau für einen 380-kV-Richtbetrieb hätte den Gesamtwiderstand unzulässig erhöht und keinen stabilen Betrieb gewährleistet /3/. Damit spielten Spannungs- und Selbsterregungsprobleme praktisch keine Rolle. Mit der 220-kV-Lösung wurde dem Netz nur eine einzige aktive Leitung (Ragow – Wolmirstedt) entzogen (Versorgungssicherheit !), die andere (Helmstedt – Wolmirstedt) war ohnehin nicht in Betrieb.
Bei maximalen Betrieb mit fünf Generatoren wurde mit 82° Übertragungswinkel eine ausreichende Reserve zur Stabilitätsgrenze 90 ° ermittelt. Der entscheidende Dreh- und Angelpunkt in den Stabilitätsrechnungen war die Berücksichtigung der etwas unauffälligen magnetischen Generatorsättigung bei voller Leistung. Ohne diesen Sachverhalt sind instabile 95° berechnet worden. So war das Grundkonzept fertig.
Ab Montag konnten weitere flankierende Untersuchungen vorgenommen und das Versuchsprogramm für Freitag,
den 2. November 1990, vorbereitet werden. Die Versuche mit drei 100-MW-Generatoren des Kraftwerkes Lübbenau über den 260,4 km langen Richtbetrieb mit 220 kV verliefen erfolgreich.
Dieser Richtbetrieb funktionierte ohne Zwischenfälle bis zur elektrischen Wiedervereinigung am 13. September 1995. Neben Zusatzeinnahmen sicherte er Arbeitsplätze im Kraftwerk Lübbenau und im Tagebau Seese-Ost . Die für den Richtbetrieb zusätzlich geförderten 10 Mio. t /4/ waren insbesondere für den erst 1988 in Betrieb genommenen Tagebau Seese-Ost überlebenswichtig /5/.
Elektrotechnisch interessant und neu waren die sogenannten Schwebungen (minimale Pendelungen) auf beiden Leitungen 531/532 der Doppelleitung Ragow- Wolmirstedt, die durch die unterschiedlichen Frequenzen der beiden Leitungen auf einem Mast entstanden.
Literatur
1. Harald Radtke, 50 Hertz Mitarbeiterzeitschrift frequenz, 2-2020, S. 27
2. Peter F. Heidinger, VDEW-Vorsitzender, „Zur Hilfe bereit“,Sieg Tech Nr. 1/90,
3. Dr. Egbert Broßmann „Helmstedt: Kein heißer Draht mehr“, Megawatt 1995/10, S.7/8
4. Frank Berger, Harald Radtke „Netztechnische Maßnahmen zur Wiedervereinigung des Verbundnetzes in Deutschland“ VDE-Veranstaltung, 17.12.2020, S. 10
Mit Datum 22.12.2024 gab es durch den Autor des Berichts, Herrn Dr. Brossmann, folgende Ergänzung:
Bezüglich Rückfragen zu den umgehend aufgenommenen österreichischen Stromlieferungen (ohne Vertragsverhandlungen ?) ist das Wort sofort treffender. Zur Unterstützung Polens gab es damals einen kaum, aber zumindest in der sowjetischen Akademiezeitschrift „Energetika und Transport“ publizierten 400-MW-Stromvertrag Sowjetunion – Polen – Österreich mit Deviseneinnahmen für Polen. Durch den mit der Boxbergstörung bei -30° C entstandenen Strom-Mangel im DDR-Netz flossen diese 400 MW neben weiteren kurzfristigen Lieferungen nach den physikalischen Gesetzen sofort in die DDR und ausgerechnet über eine der beiden Einfachleitungen 568 Mikulowa (Polen)-Hagenwerder im vorbildlich ausgebauten DDR-Hochspannungsnetz mit Doppelleitungen. Diese Leitung zwischen den zwei Großkraftwerken Hagenwerder (1000 MW) und Turow (2000 MW) wurde dabei überlastet. Die Österreichlieferungen wurden später vertraglich vereinbart und hatten 1987 einen Wert von ungefähr 1 Mrd. Mark der DDR (1,8 Mrd. Schilling /1/, Umrechnung zur DM 1987 4,35 /2/).
Literatur:
austria-forum.org/web-books/en/deutschefrage00de2018isds/000209
Gerlinde Sinn, Hans-Werner Sinn „Kaltstart“ Tübingen 1992, dtv 1993 S.72
Beendigung der Strominsel (West-)Berlins vor 30 Jahren
Erinnerungen zum Jubiläum von
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Bildgestaltung inhaltlich und grafisch: Bernd Schmidt
Zuarbeiten von: Dr.-Ing. Egbert Broßmann, Alfred Schilling, Bildarchiv der Philipp Holzmann AG / Hauptverband der Deutschen Bauindustrie e.V. im Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsarchiv, u.a.
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